in Webdesign
Digitale Barrierefreiheit ist kein Zusatz, den man per Klick aktivieren kann, sondern ein zentraler Bestandteil guter Webentwicklung. Dennoch werben zahlreiche Anbieter mit sogenannten „Accessibility Overlays“, also Tools, die Webseiten nachträglich zugänglich machen sollen. Sie versprechen eine schnelle Lösung, indem sie Kontrastfunktionen, Textvergrößerungen oder vereinfachte Lesemodi bereitstellen.
Was gut klingt, löst das eigentliche Problem jedoch nicht. Denn Barrierefreiheit entsteht nicht durch Zusatzsoftware, sondern durch den bewussten Aufbau einer Website, von der Programmierung über das Design bis hin zur Bedienlogik.
Echte Barrierefreiheit bedeutet, dass digitale Inhalte unabhängig von Einschränkungen oder technischen Hilfsmitteln zugänglich sind. Menschen mit Seheinschränkungen, motorischen oder kognitiven Beeinträchtigungen, Screenreader-Nutzer oder Personen mit assistiven Geräten müssen dieselben Informationen erreichen können, ohne Umwege oder Zusatzschritte.
Das Ziel ist nicht, alternative Wege zu schaffen, sondern dieselben Inhalte gleichwertig nutzbar zu machen. Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zu vielen Overlay-Lösungen, die lediglich zusätzliche Bedienoberflächen einblenden, statt strukturelle Barrieren zu beseitigen.
Tools, die Barrierefreiheit versprechen, arbeiten meist nach demselben Prinzip:
Sie legen eine zusätzliche technische Schicht über die eigentliche Website. Diese Oberfläche bietet Nutzern eigene Schaltflächen, um beispielsweise Schriftgrößen anzupassen, Kontraste zu verändern oder Vorlesefunktionen zu aktivieren.
Doch diese Lösung hat einen Haken:
Damit Nutzer davon profitieren, müssen sie zunächst das Tool selbst finden, aktivieren und verstehen, ein zusätzlicher Schritt, der genau jene Menschen belastet, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind.
Auch technisch sind solche Tools problematisch:
Sie greifen in die DOM-Struktur ein, fügen zusätzliche Elemente hinzu oder überschreiben bestehende CSS-Eigenschaften. Dadurch können Konflikte mit assistiven Technologien entstehen, etwa mit Screenreadern, die durch die veränderte Struktur Inhalte falsch oder doppelt auslesen.
Zudem berücksichtigen viele Overlays keine systemweiten Voreinstellungen.
Ein Nutzer, der in seinem Betriebssystem bereits eine größere Schrift oder einen hohen Kontrast aktiviert hat, sollte diese Anpassungen überall vorfinden, unabhängig davon, ob ein Website-Tool aktiv ist oder nicht.
Der Wunsch nach einer schnellen Lösung ist nachvollziehbar: Unternehmen möchten gesetzliche Anforderungen wie die EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit (European Accessibility Act) erfüllen und dabei Zeit sparen. Doch kurzfristige Tools ersetzen keine nachhaltige Umsetzung.
Barrierefreiheit ist kein Plugin, sondern ein Entwicklungsansatz.
Sie betrifft Semantik, Struktur, Farbauswahl, Navigationslogik, Formularlogik, Alternativtexte und Tastaturbedienbarkeit gleichermaßen.
Ein Overlay kann zwar temporär kosmetische Effekte bieten, aber keine strukturellen Fehler korrigieren – beispielsweise:
Im Gegenteil: Solche Tools können dazu führen, dass Entwickler weniger motiviert sind, den zugrunde liegenden Code zu verbessern, da sie glauben, das Problem sei bereits gelöst.
Die Grundlage für inklusive Websites ist technischer Standard, nicht Zusatzlogik.
Das bedeutet:
Diese Maßnahmen sind nicht optional, sie sind die Grundlage für gute User Experience und Suchmaschinenfreundlichkeit zugleich.
Die „Web Content Accessibility Guidelines“ (WCAG) definieren international gültige Kriterien, um digitale Inhalte barrierefrei zu gestalten.
Dazu gehören vier Kernprinzipien:
in Tool kann diese Standards nicht automatisch umsetzen, weil sie strukturelle Entscheidungen erfordern, zum Beispiel bei der Gestaltung von Navigationspfaden, Formularfeldern oder Fehlermeldungen.
Viele Hilfstechnologien, etwa Screenreader wie NVDA, JAWS oder VoiceOver, folgen klaren semantischen Regeln. Wenn ein Overlay JavaScript-basiert Eingriffe in das Dokument vornimmt, kann das zu Fehlinterpretationen führen.
Ein Beispiel:
Ein Nutzer öffnet ein Overlay, das automatisch alle Links farblich hervorhebt und mit eigenen Tooltips versieht. Der Screenreader erkennt diese Tooltips als zusätzliche Inhalte und liest dieselben Informationen doppelt vor. Statt Barrierefreiheit entsteht Verwirrung.
Gleiches gilt für Tastatursteuerungen: Wenn Tools eigene Fokusrahmen einfügen, können diese den nativen Fokus überlagern. Das führt dazu, dass Nutzer mit eingeschränkter Motorik die Navigation verlieren.
Die größte Schwäche von Overlays liegt darin, dass sie Barrierefreiheit als nachgelagerte Aufgabe betrachten.
Dabei ist sie ein Qualitätskriterium – vergleichbar mit Performance, Sicherheit oder SEO.
Eine technisch und gestalterisch barrierefreie Website ist zugleich stabiler, schneller und nutzerfreundlicher. Suchmaschinen bevorzugen semantische Strukturen, und Menschen profitieren von klarer Logik und zugänglichen Interaktionen.
Barrierefreiheit ist eine Frage der Haltung: Sie bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für die rechtliche Erfüllung von Richtlinien, sondern für echte digitale Teilhabe.
Das Ziel ist nicht, Menschen mit Behinderung den Zugang zu „erleichtern“, sondern ihn selbstverständlich zu machen.
Für Agenturen und Entwickler heißt das:
Die Verantwortung liegt in der Planung, Konzeption und Umsetzung. Wer Barrierefreiheit von Anfang an integriert, spart langfristig Zeit, Kosten und schafft eine Website, die für alle funktioniert.
Digitale Barrierefreiheit ist kein Add-on, das man nachträglich aktivieren kann.
Sie entsteht durch saubere Entwicklung, klare Strukturen und das Verständnis, dass jedes technische Element auch ein soziales Statement ist: Zugang für alle.
Automatisierte Tools können kurzfristig unterstützen, aber keine nachhaltige Lösung ersetzen.
Wirklich barrierefreie Websites werden gebaut, nicht überlagert.